Die derzeit vorliegende Anklage, in Bezug auf die sich Radovan Karadžić morgen aller Voraussicht nach nicht schuldig bekennen wird, umfasst insgesamt elf Anklagepunkte, welche grob in drei Gruppen unterteilt werden können: Anschuldigungen auf Grund der Belagerung von Sarajevo und den damit verbundenen Attacken gegen Zivilisten, der durch die bosnisch-serbische Armee errichteten Internierungslager und der Verbrechen gegen nichtserbische Zivilpersonen in weiten Teilen Bosnien und Herzegovinas, und insbesondere in Srebrenica im Juli 1995.
Anklagepunkt 1 bis 6 - Völkermord und Beihilfe zum Völkermord, sowie die "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" Ausrottung, Mord (auch ein weiterer Anklagepunkt als "Verstoß gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges") und vorsätzliche Tötung - werfen Karadžić vor, "allein und in Zusammenarbeit mit anderen", darunter u.a. Biljana Plavsić, Karadžićs Nachfolgerin im Präsidentenamt der Republika Srpska, "die ganze oder teilweise Vernichtung der bosnisch-kroatischen und bosnisch-muslimischen Bevölkerungsgruppen" in zahlreichen Gebieten Bosnien und Herzegovinas geplant und befohlen zu haben. Neben Attacken auf einzelne Gemeinden und Orten, welche auf die Ermordung der nichtserbischen Einwohner zielten, wurde dies auch durch die Einrichtung von Internierungslager, in denen die Gefangenen unerträglichen Lebensbedingungen, sowie "grausamer und unmenschlicher Behandlung" ausgesetzt waren, vorangetrieben. Die Anklageschrift umfasst eine ausführliche Auflistung einzelner Ermordungen von Zivilisten, sowie der bosnisch-serbischen Lager, darunter auch Omarska, Keraterm und Trnopolje in der Region um die nordbosnische Stadt Prijedor, die bereits Gegenstand zahlreicher früherer Verfahren vor dem ICTY waren. Des Weiteren schildert eine Passage der Anklageschrift die Geschehnisse in der bosniakischen Enklave Srebrenica in Übereinstimmung mit den in vorhergehenden diesbezüglichen Prozessen (u.a. gegen Radislav Krstić (IT-98-33), in dessen Zuge die begangenen Verbrechen erstmals als Völkermord klassifiziert wurden) etablierten Fakten.
Anklagepunkt 7 - Verfolgung als "Verbrechen gegen die Menschlichkeit" - bezieht sich neben den auch bereits durch die vorhergehenden Punkte abgedeckten Ermordungen von nichtserbischen Zivilpersonen in Srebrenica und anderen bosnisch-herzegovinischen Gemeinden, auch auf deren "brutale und unmenschliche Behandlung" durch Schläge, Folter und sexuelle Gewalt nicht nur in den Internierungslagern, sondern auch auf Polizeistationen oder in Privathäusern. Punkt 8 und 9 der Anklage umfassen Deportation und "andere unmenschliche Handlungen", beides "Verbrechen gegen die Menschlichkeit".
Die jahrelange Belagerung Sarajevos, sowie der Beschuss der Stadt von den umliegenden Hügeln durch das Romanija-Corps der bosnisch-serbischen Armee unter Befehl des 2006 zu lebenslanger Haft verurteilten Stanislav Galić, fallen unter Punkt 10 der Anklage: unrechtmäßiges Zufügen von Schaden gegen Zivilisten (Unlawfully inflicting Terror upon Civilians) als "Verstoß gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges". Den letzten Anklagepunkt bildet die Geiselnahme von mehr als 200 Angehörigen der UN-Friedenstruppen zwischen 26. Mai und 2. Juni 1995. Die Geiseln wurden während der zu dieser Zeit stattfindenden NATO-Luftangriffe gegen serbische militärische Kräfte in Bosnien und Herzegovina an verschiedenen Orten, welche als potentielle Ziele eingeschätzt wurden, festgehalten, um deren Bombardierung durch die NATO zu verhindern, und die Einstellung der Angriffe zu erzwingen. Die Geiselnahmen stellen einen "Verstoß gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges" dar.
In all diesen Punkten hat sich Karadžić sowohl in Hinblick auf seine individuellen strafrechtliche Verantwortlichkeit durch die Planung und Befehligung dieser Verbrechen, als auch auf Grund seiner Stellung als Vorgesetzter, welcher von seinen Untergebenen begangene Verbrechen nicht verhindert oder bestraft hat, zu rechtfertigen.
siehe:
IT-95-5/18 Amended Indictment (31.05.2000)