02.09.2008

Diplomatische Vereinbarungen und Immunität?

Bereits im Rahmen der Initial Appearance kam Radovan Karadžić auf ein angebliches Abkommen bezüglich seiner Immunität gegen Verfolgung durch das ICTY mit dem diplomatischen Vertreter der USA, Richard Holbrooke, sowie die seiner Darstellung nach rechtswidrigen Umstände seiner Verhaftung zu sprechen. Am darauffolgenden Tag reichte er die für diesen Anlass vorbereitete schriftliche Erklärung, deren Verlesung ihm durch Richter Orie untersagt worden war, als Eingabe an die Pre-Trial-Chamber ein. Die Vertreter der Anklage gaben angesichts der formalen Gestaltung und Formulierung des Schriftstücks die Empfehlung ab, "den Angeklagten auf die Mindestanforderungen für Eingaben, die für eine Antwort der Anklage und eine Entscheidung der Pre-Trial-Chamber notwendig sind" hinzuweisen. Dieser reagierte darauf am 05. August 2008 mit einer erneuten Eingabe, welche sich nur mehr auf die angeblichen Vereinbarungen mit Holbrooke bezieht - an der vergleichsweise informellen Sprache änderte sich jedoch auch in dieser zweiten Eingabe wenig, wobei fraglich ist, inwieweit das tatsächlich allein auf die mangelnde Vertrautheit des Angeklagten mit dem Verfassen entsprechender Texte zurückzuführen ist. Die in manchen Formulierungen zum Ausdruck kommende Naivität unterstreicht fast zu perfekt das von Karadžić gezeichnete Image des "ehrbaren Angeklagten", der sich der Jurisdiktion des Tribunals willig unterwerfen würde, wenn dieses nur sicherstellt, dass sein Verfahren fair ablaufen und seine Sicherheit in Untersuchungshaft gewährleistet würde.

Das kurz nach dem Ende des Bosnienkrieges geschlossene Abkommen umfasste laut Karadžić eine Verpflichtung zu seinem sofortigen Rücktritt aus allen politischen Ämtern - er war zu diesem Zeitpunkt sowohl Präsident der Republika Srpska, als auch Vorsitzender der Srpska Demokratska Stranka (Serbische Demokratische Partei; SDS). Darüber hinaus wurde auch sein völliger Rückzug aus dem öffentlichen Leben gefordert, was insbesondere einen Verzicht auf Interviews, Fernsehauftritte und die Veröffentlichung von Publikationen umfasste. Im Gegenzug erklärten sich die USA bereit, das Antreten der SDS bei den ersten Wahlen nach Kriegsende im September 1996 nicht zu verbieten und keine weiteren Mitglieder der Partei aus ihren Ämtern zu entfernen.

Bis zu diesem Punkt deckt sich Karadžićs Darstellung mit jener Richard Holbrookes, welcher in seinem 1998 veröffentlichten Buch "To End a War" ebenfalls von einer derartigen Vereinbarung spricht. Holbrooke hatte seiner eigenen Darstellung zufolge immer wieder auf eine Verhaftung Karadžićs gedrängt, was er jedoch weniger mit der Notwendigkeit, Kriegsverbrechen strafrechtlich zu verfolgen, begründet, als mit der Gefahr für die Implementierung des Ende 1995 unter seiner Federführung geschlossenen Dayton-Abkommens, die Karadžić und seine nach wie vor offen vertretenen, separatistischen Standpunkte darstellten. Eine Verhaftung wurde jedoch auf Grund diplomatischer und politischer Überlegungen nicht forciert. Holbrooke zufolge machten die NATO/IFOR-Truppen ein entsprechendes Vorgehen von einer expliziten Anweisung des US-Präsidenten abhängig - ein Risiko, das Bill Clinton angesichts der Gefahr und der potentiell destabilisierenden Auswirkungen einer Verhaftung gerade im US-Präsidentschaftswahljahr 1996 nicht einzugehen bereit war.

Schließlich kam es am 17. und 18. Juli 1996 in Belgrad zu einem Treffen zwischen Holbrookes Verhandlerteam, Slobodan Milošević, sowie zwei Vertretern der SDS; dem später ebenfalls vor dem ICTY angeklagten Momčilo Krajišnik und Aleksa Buha. Während das angestrebte Ziel laut Holbrooke darin bestand, Karadžić "out of power and out of country" zu bringen, ließ sich nur dessen erster Teil verwirklichen: Das schließlich getroffene Abkommen enthob Karadžić ab dem darauffolgenden Tag, dem 19. Juli 1996, seines Präsidentenamtes (Nachfolgerin wurde Biljana Plavšić) und des Vorsitzes der SDS (welches Buha übernahm) und verbot ihm jede Form öffentlicher Auftritte; die Holbrooke zufolge ebenfalls gestellten Forderungen, Karadžić möge Bosnien und Herzegovina verlassen und mit dem ICTY kooperieren, konnten hingegen nicht gegen Miloševićs Widerstand durchgesetzt werden. Erst nachdem alle Vereinbarungen getroffen waren, brach ein Untergebener Miloševićs nach Pale auf, um die wichtigste Unterschrift für den Beschluss des Abkommens, nämlich jene Radovan Karadžićs selbst, einzuholen.

In weiten Teilen stimmen die Versionen Karadžićs und Holbrookes also überein; Holbrooke erwähnt jedoch wenig überraschend keine Übereinkunft, welche Karadzics Verfolgung durch das ICTY unterbinden sollte, sondern betont ganz im Gegenteil, mehrfach (vergeblich) seine Verhaftung gefordert zu haben.

Karadžić hingegen behauptet, dass seitens der USA sogar versucht worden wäre, die getroffene Vereinbarung einzuhalten, dass der damalige Chefankläger des ICTY, Richard Goldstone, sich jedoch mit der Drohung, sein Amt niederzulegen, gegen jede Einmischung in Bezug auf die Anklagen gegen Karadžić und Mladić gewehrt hätte. Daraufhin hätte Holbrooke seinen "Plan B" ins Leben gerufen, welcher in der Liquidierung Karadžićs bestehen würde. Karadžić gibt an, daher um sein Leben zu fürchten und an seiner Sicherheit im Untersuchungsgefängnis zu zweifeln, nachdem Holbrooke nun seinen Aufenthaltsort kenne.

Angesichts der geschlossenen Übereinkünfte stellt Karadžić die Rechtmäßigkeit des Verfahrens gegen seine Person in Frage und äußert überdies Zweifel, ob der Prozess angesichts der seiner Meinung nach bestehenden Vorverurteilung durch Medien und Öffentlichkeit überhaupt in fairer Weise geführt werden könne. Gleichzeitig erhebt er jedoch die Forderung, Holbrooke, die ehemalige US-Außenministerin Madeleine Albright, Richard Goldstone und William Stueber, US-Berater des ehemaligen Chefanklägers, als Zeugen im Rahmen des Prozesses vorzuladen und bezüglich seiner angeblich vereinbarten Immunität zu befragen.

Erwartungsgemäß steht die Anklage Karadžićs Eingabe in ihrer Antwort darauf negativ gegenüber. Selbst wenn ein derartiges Abkommen geschlossen worden wäre - was die Anklage mehrfach bezweifelt - wäre dieses letztendlich völlig irrelevant, da es im Widerspruch zu einer bindenden Norm des Völkerrechts steht (Verbot von Amnestien für schwere Verstöße gegen das humanitäre Völkerrecht wie Völkermord, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und Kriegsverbrechen). Auch ungeachtet dieser Norm sind die USA klarerweise nicht berichtigt, derartige Übereinkünfte in Hinblick auf die Arbeit ICTY zu treffen. Einzig der UN-Sicherheitsrat hat das Recht, bedingt auf die Anklagetätigkeit des Tribunals Einfluss zu nehmen, hat dieses jedoch außer in Hinblick auf die in Resolution S/RES/1534 (2004) formulierte Anweisung, die Anklage solle sich auf die Hauptschuldigen für Kriegsverbrechen im ehemaligen Jugoslawien konzentrieren, nie wahrgenommen.

Medial nahezu unbeachtet blieb der Zusammenhang zwischen den von Karadžić erhobenen Behauptungen und der vor kurzem ausgesprochenen "Weisung anstelle einer Anklage" (Order in lieu of an indictment) gegen Florence Hartmann, ehemalige Sprecherin der früheren Chefanklägerin Carla Del Ponte. Die komplizierte Bezeichnung ergibt sich aus der Tatsache, dass die Jurisdiktion des ICTY und damit seine Berechtigung, "offizielle" Anklagen auszusprechen, auf Geschehnisse während der Kriege im ehemaligen Jugoslawien beschränkt ist. Hartmann wird vorgeworfen, "wissentlich und vorsätzlich vertrauliche Informationen veröffentlicht zu haben", was im Widerspruch zu einer ihr bekannten Anweisung der Strafkammer im Verfahren gegen Milošević stand.
In ihrem 2007 veröffentlichten Buch "Paix et Châtiment" ("Friede und Bestrafung"), sowie in aktuellen Interviews, gab Hartmann an, dass die Verhaftungen Karadžićs und Mladićs durch Clinton, aber auch den ehemaligen französischen Präsidenten Jacques Chirac trotz sich bietender Gelegenheiten persönlich blockiert worden wären. Darüber hinaus hatte sie die Vermutung geäußert, dass Karadžić in seinem Verfahren Details zu angeblichen Geheimabsprachen bezüglich einer internationalen Duldung der Einnahme Srebrenicas im Sommer 1995 - welche den Preis für die (bosnisch-)serbische Zustimmung zum Abkommen von Dayton dargestellt habe - verlautbaren könnte, was für die beteiligten Akteure der internationalen Gemeinschaft natürlich ein Risiko darstelle.

Hartmann ist aufgefordert, am 15. September 2008 vor Gericht zu erscheinen und sich hinsichtlich zweier Anklagepunkte wegen Missachtung des Gerichts zu verantworten.

siehe:

Submission entitled "Irregularities linked to my (accused's) arrival before the Tribunal" (01.08.2008)
Prosection's Notice Regarding Accused's Communication With The Pre-Trial Chamber (04.08.2008)
Official submission concerning my (accused's) first appearance and my (accused's) immunity agreement with the USA (05.08.2008)
Prosecution's response to Karadzic's submission regarding alleged immunity agreement (20.08.2008)
ICTY Press Release (27.08.2008)