Am 31. Juli 2008, einen Tag nach seiner Überstellung von Belgrad nach Den Haag, erschien Radovan Karadžić erstmals vor dem ICTY. Einer der Schwerpunkte dieser Initial Appearance, die vor einem der für das jeweilige Verfahren zuständigen Strafkammer angehörenden Richter - in diesem Fall dem Vorsitzenden der Trial Chamber I, Alphons Orie, welcher als zuständiger pre-trial-Richter fungiert - stattfindet, liegt in der Aufforderung an den Angeklagten, sich in Antwort auf die einzelnen Anklagepunkte jeweils schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Karadžić machte jedoch von seinem Recht Gebrauch, diese Erwiderung auf die Anklage erst bei seinem neuerlichen Erscheinen vor Gericht am 29. August zu tätigen. Dies begründete er damit, zunächst "die neue Anklageschrift, welche angekündigt wurde" erhalten und in Ruhe studieren zu wollen. Damit stürzte Karadžić das diesbezüglich völlig unvorbereitete Gericht in einige Verwirrung, da dieses durch den Chefankläger, Serge Brammertz, bis zu diesem Zeitpunkt offensichtlich noch nicht über die Ausarbeitung einer neuen Anklage informiert worden war. Während sie noch keinen Zeitpunkt für die Fertigstellung der überarbeiteten Anklageschrift nennen konnte, versicherte die Anklagebehörde, diese schnellstmöglich vorlegen und bis zum Zeitpunkt der nächsten Anhörung zumindest in der Lage sein zu wollen, ein konkretes Datum für ihre Herausgabe anzugeben.
Sollte die neue Anklageschrift nicht vor dem 29. August fertiggestellt werden, wird Karadžić im Rahmen seines neuerlichen Erscheinens vor Gericht aufgefordert, sich in Bezug auf die aktuelle Anklageschrift vom 31. Mai 2000 schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Verweigert er dies, bringt Richter Orie an seiner Stelle ein Bekenntnis als nicht schuldig ein. Sofern die Anklage danach noch verändert wird, erhält Karadžić die Gelegenheit, sich zu deren Inhalt, sowie der Frage, ob die abgeänderte Anklageschrift durch die Strafkammer angenommen werden sollte, zu äußern. Sind neue Anklagepunkte enthalten, und werden diese von der Kammer akzeptiert, wird der Angeklagte aufgefordert, sich in Hinblick auf die zusätzlichen Punkte erneut schuldig oder nicht schuldig zu bekennen. Nachdem die aktuelle Anklage die schwersten Vorwürfe gegen Karadžić umfasst, sowie angesichts der Aussage des Anklagevertreters Alan Tieger, dass die Anklageschrift insbesondere in Hinblick auf die Aktualität der darin enthaltenen Punkte und deren Übereinstimmung mit der seit 2000 stattgefundenen Weiterentwicklung der Rechtsprechung des ICTY überprüft werde, kann jedoch vermutet werden, dass die überarbeitete Version keine größeren Veränderungen hinsichtlich der enthaltenen Anklagepunkte mit sich bringen wird.
Wie Slobodan Milošević plant Karadžić, sich vor Gericht selbst zu verteidigen, wobei er nach einer anfänglichen Anspielung auf seinen "unsichtbaren Berater", welcher ihm während der Initial Appearance zur Seite stünde, auf Nachfrage Richter Ories verdeutlichte, auch während des eigentlichen Prozesses auf einen Anwalt verzichten zu wollen. Das Recht, sich selbst zu vertreten, stellt allerdings kein absolutes Recht dar. Dies wurde bereits im Milošević-Prozess deutlich, als dem Angeklagten entgegen seiner Absicht, sich selbst zu verteidigen, drei so genannte amici curiae (lat. "Freunde des Gerichts") zur Seite gestellt wurden. Sie sollten sicherstellen, dass Miloševićs Rechte während des langwierigen und zunehmend äußerst komplexen Verfahrens gewahrt blieben, waren jedoch im Gegensatz zu einem Verteidiger nicht befugt, selbst aktiv Nachforschungen anzustellen. Karadžić erklärte seinen Entschluss, sich trotz der daraus zwangsläufig entstehenden Nachteile selbst vertreten zu wollen, damit, dass er "sich vor dieser Institution verteidigen werden, wie er es vor jeder Naturkatastrophe tun würde, der ich ebenfalls das Recht abspreche, mich zu attackieren". In Zusammenhang mit diesem Angriff gegen das Tribunal betonte er jedoch auch, das ICTY und das gegen ihn eröffnete Verfahren keineswegs grundsätzlich als illegitim zu betrachten, und brachte zum Ausdruck, dass damit keine Angriffe oder Kritik gegen Angehörige des Gerichts, konkret Richter Orie, beabsichtigt wären.
Insgesamt gingen Orie und Karadžić im Verlauf der gesamten Initial Appearance auffallend höflich miteinander um; zumindest derzeit besteht also ein deutlicher Kontrast zu den regelmäßigen Mikrophon-Abschaltungen und vereinzelten Schreiduellen zwischen dem Vorsitzenden Richter May und Milošević in dessen Prozess, welche nicht zuletzt auf die durch Milošević gebetsmühlenartig wiederholten Vorwürfe der Illegitimität und politischen Beeinflussung des Gerichts zurückzuführen waren.
Karadžić gab sich insgesamt im größten Teil der Anhörung auffallend gelassen. Auf die Frage nach seiner letzten Wohnadresse antwortete er beinahe augenzwinkernd, dass diese "offiziell" wohl das Haus seiner Frau in Pale wäre, "aber wenn Sie mich nach meiner inoffiziellen Adresse fragen, nach jener, die ich unter meiner anderen Identität hatte..." Fast schon großspurig wirkte auch seine Erwiderung auf das Angebot des Gerichts, Familienmitglieder oder sonstige Personen von seiner Festnahme zu informieren: "Ich glaube nicht, dass es noch irgendjemanden gibt, der nicht weiß, dass ich in Haft bin."
Besorgnis zeigte Karadžić nur in Hinblick auf seine angeblich nicht in korrekter Weise erfolgte Verhaftung, sowie seine möglicherweise mangelnde Sicherheit im UN-Untersuchungsgefängnis in Scheveningen. Das Verlesen einer vorbereiteten, vierseitigen Erklärung zu diesen Bedenken wurde ihm mit dem Hinweis, dass die Initial Appearance dafür nicht der geeignete Rahmen wäre, nicht gestattet. Der Angeklagte gab jedoch eine kurze Zusammenfassung der darin enthaltenen Punkte, in deren Verlauf Richter Orie ihm dann doch mehrmals das Wort abschnitt, da er sich in Details verlor - die Gefahr eines Absinkens auf das zeitweise Niveau des Milošević-Prozesses bestand allerdings auch hier nicht. Im Wesentlichen führt Karadžić seine angeblichen Ängste um sein Leben auf ein Abkommen zwischen ihm bzw. seinen Vertretern und dem US-amerikanischen Diplomaten und Chefverhandler im Rahmen des Friedensabkommens von Dayton, Richard Holbrooke, zurück, welches durch seine Verhaftung einseitig gebrochen worden wäre.
Die zweite Serie von Vorwürfen Karadžićs begründet sich in den Umständen seiner Verhaftung, die seiner Schilderung zufolge in inkorrekter Weise durch Personen in Zivilkleidung erfolgte, welche sich weder auswiesen, noch die ihm gegenüber erhobenen Vorwürfe erläuterten. Auch das grundlegende Recht auf Benachrichtigung von Angehörigen oder Freunden sei ihm drei Tage lang, bis zur Übergabe an die offiziellen serbischen Sicherheitskräfte, verwehrt worden. Diese Darstellung deckt sich mit jener, welche durch seinen Rechtvertreter bereits in den Tagen nach seiner am 21. Juli 2008 verlautbarten Verhaftung lanciert wurde, und derzufolge Karadžić bereits drei Tage zuvor "gekidnappt" worden wäre.
Durch Richter Orie wurden diese Vorwürfe angesichts der Unmöglichkeit, sie im Rahmen der Initial Appearance kurzfristig zu überprüfen, nur mit Verweis auf die Möglichkeit des Angeklagten, durch entsprechende Eingaben auf Unregelmäßigkeiten hinzuweisen und deren Untersuchung zu beantragen, beantwortet. Sicherheits- und sonstige Bedenken in Hinblick auf die Ausgestaltung der Untersuchungshaft seien an die Registry zu richten. Es kann erwartet werden, dass Karadžić die vier Wochen bis zu seinem neuerlichen Erscheinen vor Gericht nicht zuletzt dazu nutzen wird, entsprechende Gesuche und Darstellungen zu formulieren und einzubringen.
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