Die derzeit aktuelle Anklage geht aus den beiden unter dem ersten Chefankläger des ICTY, Richard Goldstone, erhobenen Anklagen gegen Radovan Karadžić und Ratko Mladić, IT-95-5 ("Bosnia and Herzegovina") vom 24. Juli 1995 und IT-95-18 ("Srebrenica") vom 16. November 1995 hervor, welche am 31. Mai 2000 unter IT-95-5/18 zusammengelegt wurden. Dabei wurden die vorhergehenden Anklagen auf die jeweils schwersten enthaltenen Vorwürfe reduziert, sowie durch neues Beweismaterial ergänzt und erweitert.
Die in der ersten Anklageschrift erhobenen 16 Anklagepunkte teilen sich in drei mit der derzeitigen Anklage vergleichbare Gruppen auf, welche die Angriffe gegen Zivilisten und religiöse Einrichtungen in verschiedenen Teilen Bosnien und Herzegovinas, die Beschießung Sarajevos, sowie die Geiselnahme von UN-Soldaten umfassen. Auch ohne Bezug auf die Verbrechen an bosniakischen Zivilpersonen in Srebrenica, welche nur wenige Tage vor Erhebung der Anklage stattfanden, umfasst diese bereits den Anklagepunkt "Völkermord". Dieser wird in Hinblick auf die systematische Verfolgung der muslimischen und kroatischen Bevölkerung Bosnien und Herzegovinas durch Ermordungen, Vertreibungen, Deportationen und sonstige Verbrechen, darunter u.a. Folter, Sexualverbrechen und ungerechtfertigtes Festhalten in Internierungslagern unter unmenschlichen Bedingungen, erhoben. Die enthaltene Liste von sieben Lagern, in denen derartige Verbrechen stattgefunden hätten, wurde im Rahmen der aktuellen Anklage auf insgesamt 21 ergänzt.
Während die erste Anklage den Vorwurf des Völkermordes gegenüber beiden Angeklagten nur unter Art. 7(3) des Statuts - d.h. in Hinblick auf ihre Verantwortlichkeit als Vorgesetze - erhob, berücksichtigt die Fassung vom Mai 2000 auch Karadžićs individuelle Verantwortlichkeit unter Art. 7(1). Diese Ausweitung ist insbesondere auf die durch in der Zwischenzeit durchgeführte Prozesse etablierte Befehlskette und sich daraus ergebende Verantwortung für die Planung und Anordnung der systematischen Verbrechen, zurückzuführen.
Der sechste Anklagepunkt, Zerstörung religiöser Stätten als "Verstoß gegen die Gesetze oder Gebräuche des Krieges", der durch die Auflistung von 27 zerstörten Moscheen und römisch-katholischen Kirchen, vor allem im Gebiet um Banja Luka, untermauert wird, ist in der aktualisierten Anklage nicht mehr enthalten. Ebenso wurden die Punkte 7 bis 9 (umfassende Zerstörung von Privateigentum, Enteignung und Plünderung) in dieser unter übergreifenden, schwerwiegenderen Anklagepunkten subsumiert.
Fast exakt vier Monate nach den Geschehnissen von Srebrenica wurde eine weitere Anklage gegen Karadžić und Mladić erhoben, welche sich ausschließlich mit den im Zuge der Einnahme der Enklave und UN-"Sicherheitszone" verübten Verbrechen befasst. Die in den insgesamt 20 Anklagepunkten enthaltenen Vorwürfe wurden im Wesentlichen in die aktuelle Anklage übernommen, dort jedoch zusammengefasst bzw. ergänzt. Sämtliche Vorwürfe, darunter auch der Anklagepunkt Völkermord, wurden in der zweiten Anklage sowohl unter Art. 7(1), als auch Art. 7(3) erhoben.
Von Beginn seiner Tätigkeit an stand das ICTY im Mittelpunkt einer Kontroverse, welche sich aus der vermeintlich notwendigen Entscheidung zwischen dem Streben nach einer Bestrafung der Verantwortlichen für Menschenrechtsverletzungen und Kriegsverbrechen, oder jenem nach einem schnellstmöglichen Friedensschluss im ehemaligen Jugoslawien ergab. Gerade in Hinblick auf die Erhebung von Anklagen gegen die politische und militärische Führung der bosnischen Serben wurden Befürchtungen laut, das ICTY werde sich als Hindernis für einen Friedensschluss erweisen. Letztendlich stellten sich diese als falsch heraus, nachdem die Anklagen gegen Karadžić und Mladić die Unterzeichung des Friedensabkommens von Dayton Ende 1995 nicht verhinderten, sondern vielmehr deren Ausschluss von den vorhergehenden Verhandlungen mit sich brachten. Verhandlungspartner auf serbischer Seite war der damalige Präsident der Bundesrepublik Jugoslawien, Slobodan Milošević, gegen den erst Jahre später, im Oktober 2001, erstmals vor dem ICTY Anklage erhoben wurde.
siehe:
Initial Indictment IT-95-5 "BiH" (24.07.1995)
Initial Indictment IT-95-18 "Srebrenica" (16.11.1995)
Amended Indictment IT-95-5/18 (31.05.2000)