Die Anklage ist entsprechend Rule 66(A)(i) der RPE verpflichtet, dem Angeklagten innerhalb von 30 Tagen nach dessen Initial Appearance sämtliche Dokumente und Materialien, welche verwendet wurden, um die erhobene Anklage zum Zeitpunkt ihrer Einreichung zu untermauern, zugänglich zu machen. Im Fall Radovan Karadžićs handelt es sich dabei also zumindest bis zu einer eventuellen Anerkennung der überarbeiteten Anklage nur um jene Beweismittel, Dokumente und Zeugenaussagen, welche bereits zur Erstellung der derzeitigen Anklage im Jahr 2000 verwendet wurden.
Diese grundsätzliche Verpflichtung zur Offenlegung unterliegt zahlreichen möglichen Einschränkungen, welche in Übereinstimmung mit Art. 20(1) und Art. 22 des Statuts dem Schutz von Opfern und Zeugen dienen. Dementsprechend ermöglichen diverse Regelungen innerhalb der RPE beispielsweise unter besonderen Voraussetzungen auf Antrag der Anklage die Geheimhaltung der Identität von Zeugen und Opfern, welche durch eine Offenlegung gefährdet werden könnten, bis diese unter dem Schutz des Tribunals stehen (Rule 69(A)) oder die völlige Geheimhaltung einzelner Dokumente (darunter übrigens auch Anklageschriften) und Informationen gegenüber der Öffentlichkeit (Rule 53). Weiters dürfen Informationen, welche der Anklage vertraulich gegeben und nur dazu verwendet wurden, neue Beweise zu erheben, nicht ohne Zustimmung der betroffenen Person öffentlich gemacht werden (Rule 70(B)).
Im Verfahren gegen Karadžić haben die Anklagevertreter am 04. August 2008 einen Antrag auf eingeschränkte Veröffentlichung von Beweismitteln, sowie hinsichtlich der Identität von Opfern und Zeugen, an die Strafkammer gestellt. Sie ersuchte die Strafkammer darin, dem Angeklagten zu untersagen, die an ihn weitergegebenen Materialien in irgendeiner Weise öffentlich zu machen. Davon ausgenommen sind lediglich Verwendungszwecke, welche für die Vorbereitung der Verteidigung notwendig sind. Weiters beantragte die Anklage, sämtliche Informationen welche auf den derzeitigen Aufenthaltsort eines Zeugen oder dessen Familie hindeuten, aus den Unterlagen zu streichen. Sollte die Verteidigung sich dennoch über den Aufenthaltsort eines Zeugen klar werden, ist sie verpflichtet, diese Information - wiederum mit Ausnahme von Maßnahmen, welche für die Vorbereitung der Verteidigung notwendig sind - nicht öffentlich zu machen.
Am 02. September 2008 erging die entsprechende Entscheidung der Trial Chamber III, welche anordnete, dass die Anklagebehörde Karadžić bis zum 15. September 2008 sowohl eine vertrauliche und vollständige, als auch eine öffentliche und entsprechend redigierte Version sämtlicher zu übergebenden Materialien zukommen lassen solle. In der vollständigen Version müssen die Namen der Opfer und Zeugen enthalten sein; Informationen bezüglich des aktuellen Aufenthaltsorts dürfen jedoch, wie von der Anklage gefordert, gestrichen werden. Die Identität von Zeugen, welchen eine so genannte "verzögerte Offenlegung" zugesichert worden war, kann bis 30 Tage vor dem zu erwartenden Prozessbeginn zurückgehalten werden. Dem Angeklagten wird untersagt, Informationen aus der vertraulichen Version zu veröffentlichen. Auf Zuwiderhandlung droht eine Strafe wegen Missachtung des Gerichts entsprechend Rule 77 der RPE, welche üblicherweise durch Verhängung einer Geldstrafe erfolgt.
Am 22. September 2008 informierten die Anklagevertreter die Strafkammer und den Angeklagten über die Tatsache, dass die Identität eines Zeugen derzeit noch zurückgehalten werde. Der Zeuge wird im veröffentlichten Teil der Benachrichtigung mit dem Kürzel KDZ33 bezeichnet, welches entsprechend dem Antrag der Anklage auch im Prozess gegen Karadžić verwendet werden soll. Ihm war bereits im Zuge des Prozesses gegen Mićo Stanišić (IT-04-79) eine verzögerte Offenlegung seiner Identität zugesichert worden.
siehe:
Prosecution's motion for protective measure for victims and witnesses and documentary evidence (04.08.2008)
Decision on prosecution motion for non-disclosure (02.09.2008)
Prosecution notification of delayed disclosure (22.09.2008)